„Wir sahen nur den Westen“

  • Regine Hildebrandt
    © Gedenkstätte Berliner Mauer
Dr. Regine Hildebrandt |2:07 Min

Dr. Regine Hildebrandt über die West- und Ost-Seite der Bernauer Straße, Interview 1999, GBM

Meine Familie, da sie ja lange dort lebte, hat miterlebt, dass die Straßenseite der Bernauer Straße, wo wir wohnten, primär gar nicht zum Bezirk Mitte, sondern zum Bezirk Wedding gehört hat. Wenn es nicht noch diese Umstrukturierung der bezirklichen Zugehörigkeit gegeben hätte, wäre unsere Straße zum Wedding zählend gewesen und damit also im Westen. Da die Grenzziehung der Stadtbezirksgrenze folgte, war also die Versöhnungskirche mit einigen wenigen Gemeindemitgliedern im Osten und die gesamte Gemeinde war im Westen auf der anderen Straßenseite. Und so wie sich die Kirchgemeinde überschnitt, so war es natürlich auch mit den Einschulungsbereichen. Ich bin mit sechs Jahren 1947 eingeschult worden in die Schule, die schon mein Vater besucht hat. Die war nun aber auf der anderen Straßenseite um die Ecke herum in der Strelitzer Straße, also im Westen. Diese Situation war eben völlig absurd. In dieser Schule lernte ich Französisch und bekam parallel dazu überhaupt nicht mit, dass im Osten langsam die Pionierorganisation und der Russischunterricht begannen und alles mögliche andere, was Staatsdoktrin bedeutete. Das spielte in unserem Leben eigentlich kaum eine Rolle.

Sie müssen sich vorstellen, wenn Sie die Möglichkeit haben, aus dem Haus heraus in den Westen zu gehen. Wenn alles, was Sie aus dem Fenster sehen, bereits Westen ist. Wenn Sie erleben, wie dort die Bananenständen sind, wo dann Südfrüchte verkauft werden. Um die Ecke rum gab es Schichtkäse. Wir holten immer ein halbes Pfund Schichtkäse aus dem Westen, oder auch Zitronen im Winter. Also das kam dann alles langsam und wir sahen nur den Westen. Wenn im Osten am 1. Mai Demonstrationen waren, sollten alle die Fahnen aus dem Fenster hängen. Wir konnten überhaupt keine Fahnen aus dem Fenster hängen, weil die Fahne dann im Westen gehangen hätte.

Demzufolge waren wir, wenn Sie so wollen, eigentlich mehr mit dem Westen verbunden als mit dem Osten. Auf die Art und Weise auch mit dem, was passierte – nehmen wir mal an: Weltfestspiele. Ein Gerammel überall in Ost-Berlin, bei uns war Ruhe, weil wir im Westen waren. Die Straße war Westen, geguckt haben wir in den Westen.